Nahezu zeitgleich Wahlen in Tschechien und Deutschland - idealer Anlass, zum Auftakt der deutsch-tschechischen Nachbarschaftsgespräche, die die Euroregion Elbe/Labe und die miteinander initiiert haben, über die Bedeutung der Wahlergebnisse für die tschechisch-deutschen Beziehungen und Europa nachzudenken.
Am 13.10.2021 startete die neue Gesprächsreihe mit all den Herausforderungen, die ein zugleich hybrides und bilingual Veranstaltungsformat für alle Beteiligten mit sich bringt, im Rathaus Pirna in einen auch für die Veranstalter:innen spannenden Abend. Podiumsgäste waren Kilian Kirchgeßner, Journalist und Tschechien-Korrespondent, Dr. Zuzana Lizcová, Leiterin des Lehrstuhls für deutsche und österreichische Studien an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Karls-Universität Prag, und Maik Herold, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Technischen Universität Dresden.
Update und Einordnung
Um alle Teilnehmende über den Ausgang der Wahlen insbesondere auch im Nachbarland zu informieren, wurden die Podiumsgäste zunächst um eine Vorstellung der Wahlergebnisse und Einordnung in die jeweilige politische und gesellschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahre gebeten. Auch wenn in der Bundesrepublik der noch im Mai unvorstellbare Aufschwung der SPD nicht erwartet worden war, so waren am Ende die wenigstens von den Wahlergebnissen allzu überrascht. Ganz anders die Situation in Tschechien: Die doch recht aggressive Wahlkampagne Andrej Babišs hat ein solches Ergebnis zuvor offenbar nicht vermuten lassen. Seine Partei ANO hat zwar nur 2 % an Stimmen verloren, doch konnte das neue Wahlbündnis SPOLU aus mehreren im Detail recht unterschiedlichen Mitte-Rechts-Parteien mit seinem klaren Bekenntnis zur EU und NATO und einer scharfen Abgrenzung zu Babiš mehr Stimmen auf sich vereinen. Allerdings darf zugleich nicht übersehen werden, dass gleich mehrere Parteien und somit viele Bürger:innen des Landes im neuen Parlament nicht mehr vertreten sein werden, da diese Parteien für die neue Legislaturperiode unter die auch in Tschechien geltende 5%-Hürde gefallen sind, darunter unter anderem auch die zwei linken Parteien: die bis jetzt regierende ČSSD, also die Sozialdemokratische Partei, und die KSČM, die Kommunistische Partei Böhmens und Mährens.
Erneuerung
Interessant war Kilian Kirchgeßners Hinweis, dass die Spitzenkandidat:innen der etablierten Parteien Tschechiens früher in so manchen Skandal verwickelt gewesen seien, was Andrej Babiš und seiner Partei ANO mit ihrem Antikorruptionsprogramm erst den rasanten Aufstieg ermöglicht habe - Babiš sei schon reich genug gewesen und hätte es nicht nötig gehabt, sich korrumpieren zu lassen, so das Narrativ. Inzwischen sei es den etablierten Parteien jedoch gelungen, sich vollkommen neu aufzustellen, was ihnen die Wähler offenkundig auch geglaubt und gedankt haben. Der Schatten fällt aktuell hingegen auf die populistischen Parteien. Jedoch auch das deutsche politische Establishment wird derzeit von so mancher Affäre der einen oder anderen Art erschüttert - sollten daraus nicht auch dringend Konsequenzen gezogen werden? Denn das Vertrauen vieler Bürger:innen in ihren Staat ist insbesondere im Osten ohnehin bereits durch die Transformationserfahrungen tief erschüttert, ungeahndete politische Affären entfernen diese Menschen nur noch mehr von der Demokratie - eine gefährliche Entwicklung. Eine punktuelle und vielleicht auch strukturelle Erneuerung täte auch hier dringend not.
Bedeutung
Im Folgenden debattierten die Gäste über weitere Koalitionsoptionen und die Ursachen des Wahlverhaltens. Ein weiteres Schlaglicht wurde auf die Wahlsysteme und Regierungsbildung geworfen und darauf, welche Folgen das fehlende Briefwahlrecht in Tschechien zeitigt. Insbesondere auch der Frage, weshalb populistische Parteien gerade in postsozialistischen bzw. -kommunistischen Ländern so stark werden können, wurde nachgegangen. Allzu große Auswirkungen für den Grenzraum und die gemeinsame Zukunft der beiden Länder fürchtet man jedoch nicht. Die guten Beziehungen zwischen Tschechien und Deutschland habe sich bereits so gefestigt, dass sie Normalität geworden seien. Umfassend wurde jedoch der Wunsch geäußert, gerade im grenznahen Raum noch mehr regional zu denken als national und kommunal. Einer der Diskutanten brachte es daher mit seinem Wunsch an die neuen Regierungen auf den Punkt: "Die Beziehungen sind bereits so gut, da möchte ich sagen: Versemmelt es nicht!"
Dank
Unser ausdrücklicher Dank gilt den Diskutanten:innen für die interessante und anregende Debatte, der Dolmetscherin Petra Sochová für ihre mühevolle Arbeit des Simultanübersetzens und dem Medienkulturzentrum Dresden e.V. für die technische Unterstützung bei der Umsetzung dieses hybriden, bilingualen Veranstaltungsformats und ganz besonders auch der Stadtverwaltung Pirna für die Bereitstellung der Räume und die unkomplizierte und gute Zusammenarbeit.
Weitere Debatten in Planung
Weitere deutsch-tschechische Nachbarschaftsgespräche sind bereits in Planung.
Die nächste Debatte findet am 25.11.2021 zum Thema "Medizinische Versorgung in der Grenzregion - Wie können Deutschland und Tschechien voneinander profitieren?" statt!
Nähere Details finden Sie demnächst auf unserer Homepage und unseren Social-Media-Kanälen.